Sonntagswort: Bleiben wir bitte - menschlich

Pfarrer Johannes Misterek, Geistliches Zentrum Nieder-Weisel, schreibt einen Impuls zum Thema Asyl.

Am Eingangsportal der Kirche Notre-Dame in Paris kann man bis heute einen so genannten Asylring sehen. Ein schwerer gusseiserner Ring. Wer diesen Ring auf der Flucht vor seinen Verfolgern erreichte, der war vorerst in Sicherheit. In der Kirche fand jeder Mensch Asyl. Es ist kein Zufall, dass Asyl-Orte ursprünglich Heiligtümer waren. Menschen zu helfen, die auf der Flucht sind, ist also eine heilige Pflicht. Die Solidarität von Jesus mit Flüchtlingen geht so weit, dass er sich mit ihnen identifiziert, wenn er sagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäus 25, 35) Mit anderen Worten: Für Gott ist jedes Menschenleben heilig.

Nach dem Anschlag von Solingen und den Erfolgen der rechtsextremen AfD im Osten kocht eine Debatte um Deutschlands Asylpolitik. Die Regierung arbeitet derzeit an einer Verschärfung des Asylrechts, und Oppositionspolitiker machen nicht einmal mehr Halt davor, das individuelle Asylrecht infrage zu stellen. Sie denken laut darüber nach, eine nationale Notlage auszurufen. Dabei ist die Zahl der Asylanträge im Vergleich zum Vorjahr um 33,6 Prozent deutlich zurückgegangen. Die Debatte verliert meines Erachtens Maß und Mitte. Es drohen grundlegende christliche Maßstäbe abhanden zu kommen.

Niemand verlässt freiwillig seine Heimat, sein Dorf, seine Wohnung. Meist sind es Krieg, Gewalt oder Hunger, die Menschen dazu zwingen, zu fliehen – auf der Suche nach einem Ort, wo sie in Sicherheit leben können. Immer die Angst um das eigene Leben, die Familie, das Wohlergehen von Kindern und Freunden im Gepäck. Niemand, der nicht schon einmal in einer ähnlichen Situation war, kann wohl nachempfinden, was es nach all den Entbehrungen auf der Flucht bedeuten muss, die Worte zu hören: Sie dürfen bleiben. Wir gewähren Ihnen einen Schutz-Status. Sie sind jetzt in Sicherheit.

Nachhaltig sind mir die Worte im Ohr, die der ehemalige US-Präsident Barack Obama bei seinem Besuch des Evangelischen Kirchentages 2017 in Berlin sagte: „In den Augen Gottes verdient ein Kind auf der anderen Seite der Landesgrenze genauso viel Barmherzigkeit und Mitgefühl wie mein eigenes. Wir können keinen Unterschied zwischen ihnen machen, was ihren Wert und ihre Würde angeht oder ihr Recht auf Schutz, Bildung und Liebe.“

Sind wir in einem der reichsten Länder der Erde dabei, diese grundlegende Empathie zu verlieren? Das Leben und Wohlergehen Geflüchteter für politische Interessen zu instrumentalisieren? Lassen wir es nicht so weit kommen. Das Recht auf Asyl ist im Grundgesetz verankert. Es ist ein Menschenrecht. An der Frage, wie wir mit geflüchteten Menschen umgehen, bewähren oder verlieren wir unsere eigene Menschlichkeit. Erheben wir in der aktuellen Debatte mutig unsere Stimme: in der Schule, am Arbeitsplatz, in den sozialen Medien, im Freundeskreis. Bleiben wir bitte – menschlich.